Liebes Tagebuch!

Leider habe ich dich in letzter Zeit extrem vernachlässigt, aber du weißt ja, meine Horde von einem guten Dutzend Sklavinnen frisst mir langsam die Haare vom Kopf und überhaupt bin ich ja so ein Unmensch, dass ich sie ständig züchtigen, prügeln, schlagen und vögeln muss, weil ich kein richtiger Mann bin, sondern Angst vor allem Weiblichen mitsamt ihrer Meinung habe und mich nur dann stark fühle, wenn ich sie unterdrücken kann! Welcher Vollpfosten hat nur die Emanzipation der Frau erfunden und wieso reden die überhaupt inzwischen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist und kümmern sich nicht lieber wie früher auch zu Urgroßvaters Zeiten um die drei Ks, deren Erfüllung das Leben der Frau doch ausmacht: Kinder, Kirche, Küche!

Egal. Ich habe ja in den letzten Tagen auch an einem Anti-Thread teilgenommen und da kam mir die Idee, dass es doch viel zu wenig kritische Mitmenschen gibt und ich sie mal einfach nach dem Vorbild der dort erfolgreichen Kritiker backen sollte.

Also, heute backe ich mir einen Kritiker, dazu gehört dann die Frage, was für Zutaten benötige ich und wie bereite ich sie zu. Kritik ist normal die Kunst der Beurteilung, des Auseinanderhaltens von Fakten, der Infragestellung in Bezug auf einen Sachverhalt oder eine Person. Das bedeutet, dass der Kritiker sich zunächst einmal seine Meinung bildet und dann diese je nachdem von negativ über neutral bis nach positiv ausfallen kann, dabei kann er aber auch im Laufe der Zeit die Meinung mal wechseln. Wie langweilig! Nein, besser ist es sich als ausgewiesener Gegner einer Sache als Kritiker zu tarnen. Gegner sind, nun ja, gegen eine Sache, aber unter dem Deckmäntelchen des Kritikers erweckt man ja den Anschein, das man sich damit auseinandergesetzt hat und manchen Aspekten auch positive Seiten abgewinnen könnte. Das alles wollen wir nicht, aber der Gegner im Kritikerpelz wirkt schon gleich einmal viel freundlicher.

Wie also backe ich mir meinen „Kritiker“? Man nehme:

  • eine feste Meinung, von der man nicht abrücken will, sondern die bereits von Anfang an feststeht und die man durchdrücken will,
  • die Tarnung der eigentlichen Gegnerschaft als Kritiker,
  • Rosinenpickerei, wenn der Gegner mal persönlich wird, ist man gleich beleidigt und vor allem ist er ja so unsachlich, nicht neutral oder noch gar schlimmeres, hach wie schrecklich, all die guten Ansätze der letzten tausend Posts sind mit einem einzigen Post für immer dahin, aber wenn man mal selber die Schiene fährt, ist das etwas gänzlich anderes und wenn der Widerpart aufjault unterstellen wir ihm einfach praktischerweise, dass das doch alles nicht so schlimm sei und er das ertragen müsse, denn sonst wäre er hier falsch mit seiner Meinung, oder kurz gesagt: man spiele als leidenschaftlicher Täter und Provokateur in der Diskussion die Opferrolle so überzeugend, dass der Rest der werten Leserschaft das nicht mehr durchblickt, mit einem Sympathie empfindet und den Widerpart im Rudel mal so richtig zur Schnecke macht,
  • die stillschweigende Bedeutungsverschiebung von gut klingenden Begriffen wie Toleranz oder Konsens in die Richtung, die einem persönlich passt, denn natürlich bedeutet Toleranz nur, dass nur sein darf, was ich haben will und Konsens, dass alles nach meiner Pfeife zu tanzen hat,
  • wenn das dann noch alles nicht hilft, dann packe man mal eben als Totschlagargument die Nazikeule heraus, das hilft garantiert immer,
  • einen festen Stamm an Fanboys und Fangirls, die bereitwillig und unkritisch einem nach dem Munde reden,
  • ganz praktisch ist auch die Zerfaserung des Threads, indem man sich dumm stellt und jeden Sachverhalt, den man selber recherchieren könnte, lieber haarklein erklären lässt, damit vergrault man schon sehr viele geduldige Mitmenschen und wenn das alleine nicht hilft, macht man im Thread noch viele, schöne Off-Topic-Inseln auf, damit er episch-breit und vor allem streckenweise meilenweit vom Thema entfernt wird, gut kommt auch ab und an das Kritisieren der mangelhaften Rechtschreibung vom Rest,
  • wenn der Kritiker intelligent wirkend agieren soll, dann gibt er ruhig ab und an auch mal einen kleinen Fehler zu, der aber nichts wirklich zur Sache tut, das macht ihn gleich viel menschlicher und sympathischer,
  • dazu hat sich auch das Einbringen von simplen Binsenweisheiten wie „Getroffene Hunde bellen“ oder „Wer so etwas macht, der macht sich die Ideen dahinter zu eigen“ oder „Wenn alles so harmlos ist, wie du sagst, was diskutieren wir hier dann tagelang darüber?“ bewährt, denn nur wenige schaffen es, die scheinbaren Widersprüche wirklich restlos aufzulösen und damit erreicht man dann einen schönen Zirkelschluss geschaffen, der dem eigenen Ziel nur nutzen kann, Hauptsache es merkt keiner, wie man selber ständig die Sache befeuert,
  • und wenn alles nichts hilft, dann hole man die Communitymoralkeule heraus und bejammere man eben, wie sehr diese unleidige Diskussion doch hier das vorher ach so tolle Klima im Forum vergiften würde, wobei man dann wohlwissentlich verschweigt, dass es diese Meinung bei vielen auch schon vorher im Forum gab.

Sicher gibt es noch mehr, liebes Tagebuch, was man in den Kritiker packen könnte, aber schon mit diesen netten Zutaten wird daraus eine runde Mischung, die jede unliebsame Diskussion früher oder später gezielt und effektiv zum Erliegen bringt. Also alles in allem eine gute Sache, und denke daran, wer so handelt, der hat die Macht! Du hast die Macht, also nutze sie fleißig, um deine Gegner mit einem freundlichen Lächeln auf deinem Mund reihenweise niederzumachen.

Ui, da ist gerade wieder ein Champignon, der zu viel Kopf zeigt, den muss ich nun unbedingt absäbeln gehen! Auf bald, liebes Tagebuch!

Ein Gedanke zu “Rezepte für Anfänger, heute: wie backe ich mir einen Kritiker?”

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