Fraglos ist das Parlament als ‚Legislative‘ und als Körperschaft, in der Volksinteressen gesetzgeberisch Ausdruck finden sollten, gegenüber der ‚Exekutive‘ bis zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Es ist nicht mehr in der Lage, selbständig Entscheidungen zu treffen, da es als Ganzes nicht mehr an den konkreten Vorbereitungen der Gesetze und an der Aufarbeitung des Materials beteiligt wird.

Auch im Parlament bilden sich oligarchische Zentren, die den größten Teil der Abgeordneten aus dem engeren Informationskreis ausschließen und so den Eintritt in den eigentlichen Entscheidungsmechanismus verwehren. …

Überall in der westlichen Welt kann – hinter der Fassade verfassungsmäßig ausgewogener Gewalten- und Kompetenztrennungen – eine weitgehende Symbiose der Parlamentsführung mit den Spitzen des Exekutivapparates beobachtet werden… Der ‚harte Kern‘ des Parlaments wird jedoch nicht entmachtet. Nicht alle Entscheidungen werden ‚anderswo‘ getroffen, da ein Teil der entscheidenden Gruppen wenn nicht als Parlament, so doch im Parlament wirkt. …

Und genau das ist für eine erfolgreiche Herrschaftsmethode unerlässlich: dass ein Teil der politischen und gesellschaftlichen Oligarchien sichtbar im Parlament tätig (also dem Schein nach öffentlich kontrollierbar), sichtbar vom Volke gewählt (damit zum Herrschaftsakt demokratisch legitimiert) und sichtbar Träger von Macht (und in der Lage, moralisch verpflichtende Wählerwünsche durchzusetzen) ist.

Wäre dem anders, würde die Bevölkerung sich gar nicht auf das parlamentarische Spiel einlassen, und sie würde die Wahlen nicht mehr als den wesentlichen Ausdruck ihrer politischen Freiheit betrachten. Mit einem Wort: erst die Präsenz der Macht im Parlament (und nicht etwa: die Macht des Parlaments) ermöglicht die Erfüllung der Aufgaben, die ihm als Organ (als Ganzem) zukommen.

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie  (1967)

3 Gedanke zu “Back to the future”
  1. Das lässt sich drastisch verkürzen und auf eine eingängige Formel reduzieren:

    „Teile und Herrsche“

    Was mich an dem Text am meisten überrascht, und dann auch entsprechend erschreckt hat, steht eigentlich unterm Text und ist die Quellenangabe nebst Datum. Seid etwa 1970/79 beschäftige ich mich mal mehr, mal weniger, mit der Politik in Deutschland. Einen wirklichen Niedergang, bzw. den Beginn davon, der Demokratie würde ich persönlich in den Jahren nach der Wiedervereinigung verorten. Davor kam es mir eigentlich doch recht demokratisch vor, auch wenn ich lange nicht alles gut und richtig fand. Und nun muss ich lesen, dass Signore Agnolian das bereits 1967 so stark empfand, dass er ein Buch darüber geschrieben hat? Weia!

    Allerdings sollte man nicht unerwähnt lassen, dass Agnoli nicht gerade ein glühender Verehrer der Demokratie war. Ich würde ihn eher als Faschisten einstufen: Erst Rechtsfaschist, später Linksfaschist.

    1. Ja, ich fand das Erschreckende an dem Text eben auch das Datum. Wobei das passt in die damalige Zeit durchaus rein, weil auch Rudi Dutschke sich in Interviews ähnlich über die Parlamente äußerte, der war also nicht alleine damit. Den Niedergang verorten würde ich allerdings auch später, nämlich unter Helmut Kohl.

      Und solche Schwenks vom einen Extrem ins andere gab es mehrere, da fällt mir auch beispielsweise noch Horst Mahler (http://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Mahler) ein. Der war ein Mitbegründer der RAF und trat später der NPD bei; dem ist die NPD aber noch zu seicht und weich.

    2. Ja, Mahler ist auch ein gutes Beispiel. Und wenn man sich bemüht würde man sicherlich noch viele ähnliche finden. Auch mir selbst viel als Jugendlicher der Schwenk von rechts aussen nach links aussen nicht besonders schwer, bevor ich mich dann später irgendwann doch mehr in der rechten Mitte eingeordnet habe, um mich schließlich heute gar nicht mehr in diesen Begrifflichkeiten zu verorten.
      Das zeigt letztlich auch nur, das zwischen linken und rechten Faschismus kein geistiger Graben existiert, weshalb ich persönlich heute Bündnis90/Die Grünen als größte zugelassene und tendenziell faschistische Partei einstufe.

      Ich sehe übrigens doch einen gravierenden Unterschied zwischen den Reden von Dutschke und dem Text von Agnoli. Zwar beklagen beide einen Mangel an echten demokratischen Prozessen, aber während Agnoli meint dass die Demokratie im Niedergang befindlich sei, vertrat Dutschke die Auffassung, dass sich die Demokratie nicht schnell und radikal genug weiterentwickeln würde. Und „Abbau“ und „fehlende Weiterentwicklung“ sind nun doch sehr verschiedene Einstufungen.

      Nun ja: Beide sind tot und können uns nicht mehr verraten was sie nach eigener Meinung verbunden oder getrennt hat.

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